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Austarierte Übergriffigkeit

Austarierte Übergriffigkeit

“Einer liebt immer mehr”. Keine Ahnung, wer mir das einmal gesagt hat, wem ich das erzählt habe, wo ich das gelesen oder gehört habe. Ich weiß nur, dass mich dieser Gedanke nicht losgelassen hat, wie es manches Mal eben so mit Gedanken ist, die eine Struktur erfassen oder ein tiefer liegendes Muster beschreiben.

Jeder war schon einmal auf der einen oder auf der anderen Seite. Keine fühlt sich gut an. Und selbst in den Beziehungen, in denen die Seiten grundsätzlich einigermaßen austariert sind, gibt es zuweilen Überhänge und Überschüsse, Defizite. Der Unterschied zu den Brüchen ist nur, dass es sich abwechselt. Mal liebt der eine, mal der andere mehr und dann wieder von vorne. Nicht weil es ums Bilanzieren ginge im Zwischenmenschlichen, vielleicht eher weil Balance und Gleichgewicht sehr starke Kräfte sind und immer am Werk, weil Entwicklungen unterschiedlich schnell und langsam verlaufen.

In Widerrechtliche Inbesitznahme von Lena Andersson liebt eine nicht nur mehr, sie liebt übergriffig. Sie legt alles in die Waagschale. Sie zieht und zerrt am anderen. Sie versucht wieder und wieder ein Spiel zu gewinnen, das schon längst verloren ist. Sie kämpft unerbitterlich.

Vielleicht weil jeder schon einmal mehr geliebt hat und einmal zuviel geliebt und nicht erwiedern konnte, berührt das Buch so viel in einem. Wie verletzlich man sei kann in der Liebe. Wie schutzlos. Wie stark doch wieder in der Verletzlichkeit. Wie hilflos gegenüber den eigenen Gefühlen. Wie ausgeliefert, wenn man sich ausliefert. Wie darin auch wieder eine Stärke liegt, ein Kampfgeist, ein Glaube an etwas Großes. Wie der Träumer durchscheint, der der Wahrheit nicht ins Auge sehen will. Der Realitätsverweigerer. Wie jedes kleinste Fünkchen Hoffnung einen weitertreibt. Wie es sich dadurch doch wieder austariert.

Ich mochte dieses Buch sehr. Es ist eines, das man ruhig mehr lieben kann als andere. Wenn man es zulässt, ergreift es von einem Besitz.

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  • …und nicht zu vergessen, die durch das Nicht-Aufgeben aufs Höchste beflügelte Kreativität…dieses Buch merke ich mir!Mit Dank, Taija

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