Hinterlassen
Ich finde den Schutzumschlag nicht mehr. Es ist mir ins Badewasser gefallen. Seitdem wellt sich das Papier. Der Buchrücken ist voller Schlieren und Fingerabdrücke. Ein Kaffeefleck zeichnet sich ab.
Es ist mir sehr ans Herz gewachsen dieses Buch.
Es erzählt auf 154 Seiten das Leben von Egger. Ein Leben, vor dem ich mich verneige. Weil es ein großes ist. Wie jedes Leben. Das vergisst man manchmal. Die Verneigung vor dem schwer zu lebendem Leben. Auf der Suche nach Erfüllung, beim Wettrüsten um den Traumjob, den Bilderbuchehemann, dem gepflegten Reihenhaus mit Vorgarten und den Vorzeigekindern gerät das Gefühl fürs Wesentliche abhanden. Dass es alleine schon ein großes Vorrecht ist auf dieser Welt zu sein und dass nichts und niemand das Anrecht hat auf irgendetwas. Die first world problems vernebeln den Blick dafür, dass es nicht zu pachten ist, dass es ein Ausnahmemoment ist und kein Dauerzustand, das Glück. Dass es nicht nur Flitterwochen gibt, sondern den Alltag, herumliegende Socken, Langeweile und unausgeräumte Spülmaschinen. Aber dass es ein Leben nicht mindert, nicht im mindestens. Dass es eine Lebensleistung ist halbwegs anständig durchzukommen, gut zu sein, besser zu werden, es neu zu versuchen jeden Tag, freundlich zu sein – zu sich und der Welt um einen herum, es immer wieder falsch zu machen und doch weiterzumachen, begreifen und nicht vergessen welches Privileg es ist, dies tun zu dürfen.
Daran hat es mich erinnert dieses Buch. Ein wenig leise geweint habe ich am Ende, ob meines eigenen Glücks und der Blindheit ihm gegenüber. Diese einzige wunderbare Verneigung vor dem Leben.
Das Buch ist nicht mehr sonderlich vorzeigbar.
Aber es hat Spuren hinterlassen.
Nicht nur aufgrund des fehlenden Schutzumschlages.
Das ist alles was zählt.
„Laut der Geburtsurkunde, die seiner Ansicht nach allerdings noch nicht einmal ihre eigene Stempeltinte wert war, wurde Egger neunundsiebzig Jahre alt. Er hatte länger durchgehalten, als er selbst je für möglich gehalten hätte, und konnte im Großen und Ganzen zufrieden sein. Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Er war sich nie zu schade für die Arbeit gewesen, hatte eine unübersichtliche Anzahl von Löchern in den Fels gesprengt und wahrscheinlich genug Bäume geschlagen, um mit ihrem Holz einen Winter lang die Öfen einer ganzen Kleinstadt zu befeuern. Er hatte oft und oft oft sein Leben an einen Faden zwischen Himmel und Erde gehängt und in seinen letzten Jahren […] hatte er mehr über die Menschen erfahren, als er begreifen konnte. Soweit er wusste, hatte er keine nennenswerte Schuld auf sich geladen […]. Er hatte ein Haus gebaut, hatte in unzähligen Betten, in Ställen, auf Laderampen und ein paar Nächte sogar in einer russischen Holzkiste geschlafen. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte. […] Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“
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deine fotos sind wundervoll. dein flickr account ist mindestens so feinfühlig und berührend wie dein blog. das wollte ich dir schon lange mal sagen. leider kann ich dort nicht kommentieren, aber es würde bei |wie ich es mochte| genau richtig stehen. liebe grüße annett
Liebe Annett, hab´vielen Dank. Und frohe Ostern.