11. September

nicht den Erwartungen entsprechend

„Ist das das Neue von Capus? Ich mochte Léon und Louise so sehr. Ist es gut?“ wurde ich oft gefragt, wenn jemand das Buch bei mir entdeckte.
Ja, es ist das Neue von Capus. Ich mochte Léon und Louise auch sehr. Und ja, es ist gut.
Es ist gut, aber ganz anders. Wenn man es nicht wüsste und es nicht auf dem Umschlag stünde, käme man nicht darauf, dass es ein und derselbe Mensch geschrieben hat.

Das hat manche enttäuscht. Man hätte etwas anderes erwartet, heißt es.

Es gibt eine Stelle in „Das Leben ist gut“, dem neusten Buch von Capus, in der er sich fragt, warum er schreibt. „Es gibt doch schon so viele Bücher, auch sehr viele sehr gute; viel mehr jedenfalls, als ein Mensch in seiner Lebenszeit lesen kann. Zudem scheint mir an machen Tagen, dass das Leben schon genug sei – dass es das Leben selbst sei, dem man Schönheit einhauchen müsse, statt es mit Kunst aufzuhübschen wie einen Weihnachtsbaum.“ Leon und Louise ist hübsch, sehr hübsche Kunst. „Das Leben ist gut“ ist der Versuch dem Alltag Schönheit zu entlocken. Beides ist wichtig. Beides ist gut.

In „Leon und Louise“ beschreibt Capus wie die beiden über goldgelbe Felder radeln im sanften Sommerwind der Sonne entgegen. In „Das Leben ist gut“ endet eine Satz mit den Worten „… hinter des Dampfwolke des Atomkraftwerks geht die Sonne auf.“
Ist das eine bessere als das andere?

Léon und Louise schwärmen sich in liebevollen Briefen aus der Ferne an und schwelgen in den wenigen Begegnungen, die sie miteinander haben und finden fantasievollste Kosenamen füreinander. In „Das Leben ist gut“ weiß Capus auf die Stimmungsschwankungen seiner Frau irgendwann nichts anderes mehr zu sagen als „dumme Kuh“. Sie kann darüber lachen, auch über sich selbst.
Ist das eine bessere als das andere?

Der Alltag hat Atomkraftwerke. In den drei Wochen teuer erkaufter Urlaub im Jahr ist es einfach sich leicht, frei und wagemutig zu fühlen. In den ersten sechs Monaten blinder Verliebtheit, wenn die Leidenschaft überkocht und die Regie übernehmen, fühlt sich der andere als die einzigste und wahre mögliche Liebe an. Auf einem Dienstagnachmittag im September nach einem langen Arbeitstag und noch mehr Jahren und im Anblick des vollen Müllsack, der immer noch an den Treppenstufen steht, ist der Blick nüchterner geworden.
Ist das eine besser als das andere?

Beides ist wichtig. Beides ist gut. Es braucht Kunst und Weihnachtsbäume. Es liegt eine besondere Art von Glück in der Schönheit des Alltags. Beide offenbaren sich meistens dem, der sie nicht erwartet.
In einer meiner liebsten Passagen aus den Tagebüchern von Max Frisch, schreibt er, dass  das Wunderbare an der Liebe ist, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. „Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte:“ wofür ich Dich gehalten habe. Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind.“ Man hat ein Bild vom anderen. Eine Erwartung, an der sich dieser zu messen lassen hat. Dann macht jede Veränderung, jedes Ausbrechen des anderen aus diesem Bild Angst. Manches Mal auch weil die andere, uns neue Seite einen erst daran erinnert, wie man selbst unverändert stehengeblieben ist. Und alles Lebendige verloren hat.

Das ist das Neue von Capus. Es ist ganz anders als Leon und Louise. Es ist sehr gut. Erwartungsfrei.

 

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